Puzzle
Gestern hab ich mir ein Puzzle gekauft, nur 300 Teile, was meiner fehlenden Geduld und der Größe meines Tisches entgegenkommt.
Wie ich mich so dieser sehr beruhigenden Tätigkeit des passende Teile Suchens hingab, dachte ich sozusagen über meine Puzzle-Historie nach.
Das erste, was mir seltsamerweise dazu einfiel, bin ich, im Sommer 1976, 9 Jahre alt. Meine Eltern sind nach Kanada geflogen und haben mich vorher alleine in den Flieger nach Berlin gesetzt, wo ich unter den diversen Verwandten herum gereicht werde: erst an die eine Oma, dann an die andere, dann zur ersten Tante, dann zur zweiten.
Meine beiden Omas waren so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Die Mutter meiner Mutter war eine herzliche Frau mit großem Hang zu Hand- und Gartenarbeiten, schon lange Witwe, kurzes Haar ohne die damals bei Senioren übliche Waschen-und-Legen-Frisur, stets in Hosen und Birkenstocksandalen, eine Frau, die fest daran glaubte, daß Kinder frei sein sollten, nicht andauernd diszipliniert, daß Lesen, Schreiben und Kunst einen hohen Stellenwert hat und Äußerlichkeiten unwichtig sind. Mich, das träumende, lesende, fantasievolle Kind hatte sie gerne, auch weil sie mich so selten hatte. Nun aber erhob auch die andere Oma Anspruch auf mich, die Stiefmutter meines Vaters und ganz anders. Für sie galt Äußeres alles, sie war immer schick gekleidet und akkurat zurechtgemacht. Kinder waren eher ein nervender Faktor und hatten vor allem eines zu sein: Wohlerzogen und gut gekleidet. Ich war beides und deswegen war sie meistens freundlich. Aber herzlich war sie nie. Herzlichkeit ging ihr ab.
Die beiden Frauen kannten sich, waren aber keine Freundinnen. Nun aber hatte Oma Elisabeth sich auf den Weg gemacht in den Wedding, um mich bei Oma Christa und Opa Alfred „abzugeben“, die mich auch für eine Zeit bei sich haben wollten.
Es gab Kaffee und Kuchen und meine Oma Christa nannte meine Oma Elisabeth immer „Lieschen“, was ich genauso grauenhaft fand, wie sie selber. Niemand anders nannte sie so.
Da die beiden keine gemeinsamen Themen hatten, glitten sie schnell in düstere Gespräche über all jene, die gestorben waren oder bald sterben würden. Dabei kamen sie auf eine Bekannte meiner Tante zu sprechen, deren Kind kürzlich an einer rätselhaften Krankheit gestorben war.
Der Ton meiner beiden Omas wurde leiser, dunkler, schwerer.
Zeit meines Lebens war ich das Kind, das still und versunken in einer Ecke spielte, scheinbar vollkommen außerhalb aller Vorgänge im Raum. In Wirklichkeit aber war ich wie ein großes Gefäß mit Antennen in alle Richtungen und nahm alles bis zur Schmerzhaftigkeit wahr, Stimmungen, Untertöne, Geflüstertes, Andeutungen, Atmosphären. Da ich aber nie auffiel, vergaßen Erwachsene, daß ich zuhörte und so hörte ich oft vieles, das nicht für Kinderohren bestimmt war.
Nun wurde die rätselhafte Krankheit eines mir unbekannten Kindes, das ein wenig jünger war als ich selber und bereits tot, in allen Details besprochen.
Meine Oma Elisabeth sagte: „Und plötzlich konnte das Kind nicht mehr puzzeln und ach was hatte sie schön gepuzzelt vorher, ne ganz Flinke war das, ne ganz Schlaue…Kein Puzzle war zu schwer. Und plötzlich ging das nicht mehr!“
Doch das war nur der Anfang des Horrors. Nach der Fähigkeit zu Puzzeln verlor dieses Kind nach und nach auch alle anderen Fähigkeiten: lesen, schreiben, rechnen, laufen, sprechen, essen…
Mir wurde eiskalt. Ich stellte mir vor, nicht mehr essen zu können, nicht mehr sprechen.
„Am Ende war sie wieder wie ein Baby…wie ein BABY! Und heute ist das Kind unter der Erde…“ Meine Oma schluchzte auf. Und die andere sagte: „Ach Gott, Lieschen, ja, ach Gott! Was es alles gibt!“
Unter der Erde…Schwere und Dunkelheit. Ich schrie auf und fing an zu weinen.
„Um Gottes Willen, Christa, wir haben viel zu schlimme Sachen erzählt!“ Ich wurde auf den Schoß genommen, beruhigt, gestreichelt.
Aber immer mußte ich an das arme Kind denken, das nun unter der Erde lag. Und alles hatte einmal mit dem Puzzeln angefangen.
Puzzeln können war wichtig im Hause meiner Oma. Sie machte selber gerne welche und wir Kinder, meine Cousinen und ich hatten unsere Kinderpuzzle. Man kniete auf dem Teppich und setzte einen Hund zusammen oder einen blühenden Baum. Ich liebte alle stillen, versunkenen Tätigkeiten und war mit Eifer dabei.
„Wie schön das Kind puzzelt!“ sagte meine Oma.
Später hatte ich zwei Schachteln mit je 3 kleinen Puzzeln, von denen jedes 150 Teile hatte. Eine Schachtel enthielt drei Hunde. Der Collie war mein Liebling. Immer wünschte ich mir einen Collie. Das andere waren drei technische Sachen: ein Kran, eine Straßenbahn, ein LKW. Auch das mochte ich seltsamerweise. Ich erinnere mich, daß ich auch noch mit 12 immer wieder diese Puzzle zusammen setzte.
Ich sehe mich förmlich noch, in meinem Souterrainzimmer (dem Spielzimmer, mein anderes, kleines Schlafzimmer war oben). Der Plattenspieler lief und spielte endlos meine damaligen Lieblingsplatten ab. Ich hockte auf der Matratze am Boden und legte zum 100000sten Mal die gelbe Straßenbahn zusammen, keinerlei Herausforderung, mehr so etwas wie eine Handarbeit, die den Gedanken gestattet zu wandern.
Die Schachtel, wenn man sie öffnet riecht noch genauso wie früher, stellte ich gestern fest, dieser Geruch, den nur Spiele haben. Aber warum um alles in der Welt, müssen Puzzle eigentlich immer alle solche Kitschmotive haben? (Muß man sich also selber Puzzle gestalten und sie anfertigen lassen?)
Was ich nie verstanden habe, sind aufgeklebte Puzzle. Ich hatte eine Freundin, deren Hobby, das sie mit ihrem Vater teilte, war das Puzzeln von riesigen Bildern mit 3000 Teilen und mehr. Wenn es fertig war, wurde es auf eine Sperrholzplatte aufgeklebt und an die Wand gehängt. Ich dachte: nun kann man es nie wieder machen. Ich fand das idiotisch. Finde ich noch heute. Vor allem, weil das gepuzzelte Bild doch durch die Struktur der einzelnen Teile überhaupt nicht gut zum Vorschein kommt.
Als S. kleiner war, hat sie ihre Puzzle oft umgedreht und sie quasi mit der Rückseite gemacht. Das hab ich auch nie verstanden, aber heute ist mir klar, daß das einfach ihrer Steinziegen-Natur entsprach: Das Schlichte ist das Schöne.
Das Einzige Puzzle, das ich niemals geschafft habe, war eins von MC Escher. Das ging gar nicht. Grau in grau und dann auch noch diese verdrehten Perspektiven.